Lebenslinien: Lisa Störiko

Lisa Störiko, geb. Honigmann schätzt sich sehr glücklich, dass sie ausgewählt wurde, wenige Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges an einem Austauschprogramm mit den USA teilzunehmen. Ihr Austausch wurde 1953-54 durch den Michigan Council of Churches betreut. Das Programm trug jedoch bereits den Namen „Youth for Understanding“, der wenig später auch für die neu gegründeten Organisationen in den USA und in Deutschland übernommen wurde. Lisa gehört zu den YFU-Ehemaligen der ersten Stunde. Heute lebt Lisa mit ihrem Mann in Marburg. Sie hat drei Kinder und sieben Enkelkinder, von denen einige auch Austauscherfahrungen gesammelt haben.

 

70 Jahre sind seit ihrer Abreise in die USA vergangen, als wir mit Lisa darüber sprechen, wie dieser Austausch ihr Leben verändert hat. Alles beginnt mit einer Schiffsreise und wenige Jahre später gehört sie zum ersten „Executive Council“ des neu gegründeten Deutschen Youth For Understanding Committees.

Liebe Lisa, bei der Idee, die „Lebenslinen“ ehemaliger Austauschschülerinnen und Austauschschüler zu verfolgen, interessiert uns ganz besonders, wie diese frühe Erfahrung über die Jahre fortwirkt. Wie hat Dich Dein Austauschjahr geprägt?

Lisa: Rückblickend stelle ich heute fest, dass der Aufenthalt in den USA als Schülerin ein entscheidender Schritt für mein späteres Leben war. Diese Phase hat meine Ausbildung, mein Familienleben und meine Kontakte zu anderen Menschen stark beeinflusst. Ich habe gelernt, andere Perspektiven wahrzunehmen und die eigene Sicht zu vertreten. Dies halte ich in der heutigen globalisierten Welt für außerordentlich wichtig. Ich freue mich über Jugendliche, die solche Chancen wahrnehmen, wie es inzwischen auch schon unsere Enkelkinder tun.

Ein Austauschjahr war keine Selbstverständlichkeit zu Deiner Schulzeit. Woher hast Du den Mut genommen?

Lisa: Im Sommer 1952 wurde in unserer Hamburger Schule bekannt gegeben, dass wir uns für einen einjährigen Aufenthalt in einer US-amerikanischen Familie bewerben könnten. Mein Interesse war geweckt. Lehrerinnen und Lehrer unterstützten meine Idee, und ein Bekannter meiner älteren Schwester, der in den USA studiert hatte, machte mir Mut.

1952 gab es YFU noch nicht. Damals wurde der Austausch vom Büro des High Commissioner for Germany (HICOG, einem Vorläufer der späteren Botschaftsvertretung der USA) organisiert. Was passierte nach Deiner Bewerbung?

Lisa: Meinem Bewerbungsschreiben folgten Auswahlgespräche im amerikanischen Generalkonsulat und im Amerikahaus. Zu meiner Freude erhielt ich ein positives Ergebnis. Es folgten zwei Vorbereitungszeiten im Raum Hamburg. Zusätzlich profitierte ich von einem amerikanischen Austauschschüler, der sich 6 Wochen in unserer Familie aufhielt. [Anfang der 50er Jahre gab es für US-amerikanische Jugendliche noch keine Möglichkeit für ein Schuljahr nach Deutschland zu kommen. Es bestand jedoch ein umfangreiches Sommerprogramm.] Er spielte sehr gut Klavier und die ganze Familie traf sich abends zum gemeinsamen Singen deutscher und amerikanischer Lieder. Unsere Favoriten waren „I’ve been working on the railroad“ und „C-a-f-f-e-e”.

1953 im Juli ging es los für Dich. Heute steigen unsere Austauschschülerinnen und -schüler in ein Flugzeug und sind Stunden später bereits bei ihrer Gastfamilie. Für Dich war jedoch schon die Anreise ein Abenteuer für sich. Magst Du uns ein Stück mitnehmen?

Lisa: Die Reise begann mit der Zugfahrt nach Frankfurt am Main, wo wir im Konsulat letzte Formalitäten zu erledigen hatten. Mit dem Nachtzug reisten wir weiter, durch die Schweiz bei schönstem Sonnenschein bis wir abends Genua erreichten. Dort wartete unser Schiff, die „Andrea Doria“, das uns in sieben oft sehr unruhigen Tagen nach New York brachte.

Dort wurden wir – 30 Schülerinnen und Schüler – von Rachel Andresen [sie organisierte den Austausch in den ersten Jahren im Namen des Michigan Council of Churches, gründete wenig später YFU und leitete die Organisation 25 Jahre] und ihrem Mann Arvid empfangen. Die folgenden zwei Wochen verbrachten wir zu unserer Überraschung im Farmhaus der Familie Andresen in der Nähe von Ann Arbor (Michigan). Hier sollten wir mit einer typisch amerikanischen Familie den „American way of life“ kennenlernen. Wir mussten bei der Hausarbeit tüchtig zupacken, hatten aber ein vielseitiges und interessantes Rahmenprogramm (Garden party, Museen, Ford-Werke in Detroit u. a.). Nach und nach fanden sich dann unsere foster parents ein, um uns abzuholen.

Zu Deinem Austauschjahr gäbe es sicherlich eine ganz eigene, lange Geschichte zu erzählen. Magst Du uns einen kurzen Eindruck davon geben, wo Du das Jahr verbracht hast und was Dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Lisa: Ich lebte bei Familie Woodard in Owosso, eine Kleinstadt mitten in Michigan mit einigen Industrieunternehmen und vielen Farmen in der Umgebung. Ich hatte besonderes Glück mit meiner Gastfamilie. Sie lebten mit ihrer 12-jährigen Tochter Bunny in einem wunderschönen Haus. Dort fühlte ich mich immer wohl. Die Mahlzeiten wurden regelmäßig gemeinsam eingenommen, und wir führten oft interessante Gespräche. Vieles war für mich jedoch ungewohnt und neuartig.

Nach meinem Austausch fasste ich für ein Referat meine Eindrücke so zusammen: 'When I went to the U.S. in 1953 many sights and experiences were new and strange to me. For instance: I was simply taken aback when I was introduced to the facilities of an American kitchen, I was amazed at the TV set to be found in every home, and the bright coloured saloon cars moving swiftly down the street and I was astonished to find out that hardly anybody worked on Saturdays.'

Wenn Du Dich bei Deiner Gastfamilie in Owosso so wohl gefühlt hast: Hast Du jemals darüber nachgedacht, in den USA zu bleiben?

Lisa: Nein. Das war kein Thema für mich. Der Aufenthalt war ein großzügiges Geschenk der amerikanischen Regierung an die deutsche Nachkriegsjugend, unterstützt durch meist kirchliche Organisationen und die Gastfamilien. Den Wohlstandsvorsprung der Amerikaner fand ich imponierend, aber trotzdem wollte ich lieber in Deutschland, meiner Heimat, leben.

Im Sommer 1953 ging es für Dich – wiederum mit dem Schiff – zurück nach Deutschland. Nach einem großen Abschiedsfest in Michigan brachten Euch die Andresens zurück nach New York. Von dort nahmt ihr den Zug nach Quebec, wo Ihr gemeinsam mit 400 deutschen und österreichischen Austauschschülerinnen und -schülern die siebentägige Rückfahrt angetreten habt. Damit war Dein Austausch formal vorbei. Für Dich ging es jedoch weiter …

Lisa: Ja, in den folgenden Jahren trafen wir uns wiederholt mit einigen Ehemaligen, um Familien für amerikanische Gastschülerinnen und -schüler ausfindig zu machen und sie während ihres Aufenthaltes [das erwähnte sechswöchige Sommerprogramm] zu betreuen. Auch meine Familie nahm mehrmals Schüler für diese sechs Wochen im Sommer auf.

Mit der Souveränität der Bundesrepublik und dem Ende des Besatzungsstatuts im Mai 1955 wurde die HICOG aufgelöst. Damit fiel auch die Finanzierung des Austauschs weg. Wie habt Ihr damals darauf reagiert?

Lisa: Im Frühjahr 1957 trafen sich die Ehemaligen von 1953 bis 1955 in Berlin, ohne zunächst die drängende Frage zu klären, wie es mit dem „Michigan Council of Churches“ weitergehen könnte, wenn das US State Department die Finanzierung streichen würde. Ulrich Zahlten, der im selben Jahr wie ich in Michigan gewesen war, ergriff die Initiative und organisierte ein weiteres Treffen im Juli 1957, bei dem auch Mrs. Andresen anwesend war. Dort wurde das „Deutsche Youth For Understanding Comittee“ gegründet und ich wurde Mitglied des Executive Council.

Ihr wart damals gerade mit der Schule fertig und auf dem Weg ins Studium. Was bedeutete diese Gründung für Euch?

Lisa: Auf uns wartete die Aufgabe, die Finanzierung für den nächsten Austausch zu klären, Auswahlgespräche zu führen und Gastfamilien für die US-amerikanischen Sommerschülerinnen und -schüler zu finden. Wir beschlossen, dass künftig jeder Ausgewählte 1.200 DM beisteuern sollte; in Härtefällen müssten wir uns auf Mrs. Andresens Fundraising verlassen.

Für das Austauschjahr 1958/59 führten wir erstmalig die Auswahl durch. 48 Schülerinnen und Schüler schafften die Hürden. Im neuen Jahr folgten zwei Vorbereitungsfreizeiten. 1959 hatte ich das besondere Glück, die ausgewählten Schülerinnen und Schüler im Juli auf ihrer Überfahrt nach Amerika und in den ersten Wochen dort begleiten dürfen. Ich wohnte in Ann Arbor, half bei Büroarbeiten und machte Besuche bei Gasteltern. Auch meine ehemalige Gastfamilie und Freunde von früher konnte ich besuchen.

Wie habt Ihr Euch in einer Zeit organisiert, in der nicht einmal jeder Haushalt über einen eigenen Telefonanschluss verfügte?

Lisa: Wir haben uns persönlich getroffen. Die erste Arbeitstagung des Komitees fand am 1. Mai 1958 in Laubach (Oberhessen) statt. Die Verteilung der Aufgaben erwies sich jedoch wegen der verschiedenen Wohnorte als schwierig. So blieb die Hauptarbeit bei Ulrich hängen. Ich konnte jedoch meinen Vater (Karl Honigmann) dazu bewegen, die Einziehung der Beiträge und die Kassenführung zu übernehmen, die er bis 1975 beibehielt.

Während das Deutsche Youth for Understanding Komitee langsam wuchs, begann auch für Dich ein neuer Lebensabschnitt. Wie ging es für Dich weiter?

Lisa: Nach dem Abitur 1956 hatte ich ein Studium als Volks- und Realschullehrerin – natürlich mit Anglistik als Hauptfach – begonnen. Dabei bemühte ich mich, vom amerikanischen Akzent auf britisches Englisch umzustellen, was mir recht gut gelang. Nach meinem Studium folgten erste Jahre im Schuldienst und Auslandsaufenthalte in den USA (für YFU), der Schweiz, um mein Französisch zu verbessern und schließlich in Schweden, wo mein Mann ein Postdoc-Studium verfolgte. Auch später begleitete ich meinen Mann gelegentlich auf seinen Dienstreisen ins Ausland. Überall erleichterten meine Englischkenntnisse die Verständigung.

Nach einem erfüllten Jahr in Uppsala zogen wir nach Marburg, wo unsere drei Kinder aufwuchsen und wo wir auch heute noch wohnen. Die heranwachsenden Kinder ließen sich gern über meine Zeit als Schülerin in Amerika erzählen. So war es kein Wunder, dass sich unsere älteste Tochter auch für einen Austausch interessierte und 1978/79 mit YFU in die USA ging.

Lass uns noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurückkehren: Was hat der Austausch nach Deiner Erfahrung in Deinem Leben bewirkt. Wie hat Dich Dein Austauschjahr geprägt?

Lisa: Ich habe vor allem gelernt, mir selbst zu vertrauen. Das unterschied mich von den Gleichaltrigen, mit denen ich nach meiner Rückkehr wieder zur Schule ging und später studierte. Sie waren beschäftigt mit dem Alltag. Ich kümmerte mich mehr um andere Themen, ähnlich wie einige Ehemalige, mit denen ich mich für den weiteren Austausch einsetzte.

In unseren Gesprächen mit Ehemaligen wie Dir sind wir auf der Suche nach einem roten Faden, der möglicherweise im Austauschjahr seinen Anfang nahm. Nach einem Weg, den Du vielleicht ohne die Erfahrung als Austauschschülerin oder das Engagement für YFU nicht gegangen wärest. Fällt Dir da etwas auf, wenn Du zurückdenkst?

Lisa: Vielleicht ist mein Einsatz als Sprachlehrerin für Flüchtlinge ein Beispiel für einen solchen Weg. Als in den 1970er Jahren Flüchtlinge aus Vietnam ohne Deutsch-Kenntnisse nach Marburg kamen, wurde Unterstützung gesucht. Die Kinder sollten auf die Integration in die hiesigen Schulen vorbereitet werden. Anfangs unterrichtete ich die Kinder bei uns zu Hause, später gab es Räumlichkeiten in der Schule. Neben dem Sprachunterricht gehörte auch viel von dem dazu, was YFU seinen Austauschschülerinnen und -schülern in Vorbereitung auf die Integration in eine neue Kultur vermittelt: Was muss ich wissen, um mich in meiner neuen Umgebung zurechtzufinden? Welche Werte sind in dieser Gesellschaft besonders wichtig? Wie verhalte ich mich in der Schule und anderswo? Bald folgten Chinesen und Afghanen sowie Deutschstämmige aus Polen und der sich auflösenden Sowjetunion. Besondere Unterstützung brauchten Flüchtlingskinder aus dem ehemaligen Jugoslawien. Neben Deutsch unterrichtete ich später auch Englisch.

Deine eigenen Erfahrungen beim Hineinwachsen in eine fremde Kultur waren sicherlich eine gute Voraussetzung, um den Kindern das Ankommen in Deutschland zu erleichtern. Hast Du das auch so empfunden?

Lisa: Mit Befriedigung konnte ich feststellen, dass mein Einsatz sowohl für die Kinder als auch für die Lehrerinnen und Lehrer sehr hilfreich war. Zu einzelnen der „Kinder“, die heute längst erwachsen sind und eigene Kinder haben, habe ich gelegentlich immer noch Kontakt.

Wenn Du jetzt – 70 Jahre später – auf Deine Zeit in den USA zurückblickst, was geht Dir durch den Kopf?

Lisa: Aus heutiger Sicht kommen mir Zweifel, ob die positive Betrachtung meines Aufenthalts in den USA derzeit noch berechtigt ist. Ich habe dieses Land beispielhaft als Vorbild für funktionierende Demokratie erlebt. Mein Wunsch wäre, dass dieses Erleben wieder Realität werden kann.

Vielen Dank, liebe Lisa, dass Du Dir die Zeit für ein Gespräch mit uns genommen hast.